Gemäß Artikel 3.2.3 der Verfassung (v4.1) kann der Facilitator auch Vorschläge auf Zulässigkeit testen (nicht nur Sicherheitsbedenken / Einwände). Zunächst mal sollten wir uns der Frage widmen, warum diese Regel existiert. Man könnte sie als Teil des Immunsystems der Organisation verstehen. Denn indem man als Facilitator diesen Test durchführt, kann man Vorschläge herausfiltern, die
- a) nicht zurückführbar sind auf irgendwelche Rollen, die der Vorschlagende füllt
- b) nicht in konkreten Spannungen geerdet sind
- c) keine Verbindung zur ursprünglichen Spannung haben (weil sie diese nicht lösen).
Warum ist das wichtig?
Im Fall von a) will man verhindern, dass Menschen ihre privaten Spannungen als Ausgangspunkt nehmen und die Organisation einspannen, um ihre persönlichen Vorlieben zu befriedigen. Diese Regel errichtet eine klare Grenze gegenüber der Ego-Agenda ihrer Mitarbeiter und schützt die Organisation davor, Muster anzunehmen, die ihrer Identität und ihrem Purpose fremd sind – wie das Immunsystem, das den Körper davor schützt, blind Viren oder Krebszellen zu reproduzieren, die dem Körper schaden oder Ressourcen fressen.
Im Fall von b) möchte man verhindern, dass man rein theoretische Spannungen löst, bzw. dass Menschen „clever“ werden und den Prozess kreativ nutzen, ohne dass der Vorschlag ein echtes Problem adressiert. Das wäre eine Verschwendung der kostbaren Governance-Zeit und würde auch die Aufzeichnungen des Kreises unnötig mit redundanten Inhalten aufblähen. Für die Übersichtlichkeit ist es aber besser, wenn sie so minimalistisch wie möglich bleibt.
Im Fall von c) möchte man verhindern, dass die vorgeschlagene Lösung und das Problem ohne echte Verbindung sind. Man muss als Facilitator in der Lage sein, eine logische Verbindung zwischen der vorgeschlagenen Lösung und der genannten Spannung zu erkennen, andernfalls stehen sie disjunkt nebeneinander und haben nichts miteinander zu tun. Beispiel: „Der Vorschlag ist eine Domäne ‚Gehalt‘ an meine Rolle HR zu hängen. Die ursprüngliche Spannung ist, dass der Kunde ständig die Rechnungen nicht bezahlt.“ Da fragt man als Facilitator zurecht nach dem sachlogischen Zusammenhang. Wichtig hierbei ist, dass man wieder nur das Argument gehört und verstanden haben muss. Man muss nicht inhaltlich zustimmen, d.h. man muss weder die Effektivität noch die Effizienz der vorgeschlagenen Lösung beurteilen. Man muss nur beurteilen, ob man die argumentative Linie zwischen Vorschlag und Spannung zumindest prinzipiell nachvollziehen kann.
Wann und wie man diese Regel anwenden sollte
In Trainings nennen wir diese Regel immer „fortgeschrittenes“ Facilitator-Wissen und lassen Anfänger-Facilitatoren wissen, dass sie sich zu Beginn nicht allzu viele Gedanken über das Testen von Vorschlägen machen sollten. Außerdem, da es gewissermaßen das Immunsystem der Organisation betrifft, sollte man sicherstellen, dass die Immun-Antwort angemessen und nicht „allergisch“ ausfällt. Normalerweise testet man daher keine Vorschläge in Anfängergruppen. Das würde die Teilnehmer davon abschrecken, den Governance Prozess auszuprobieren, was wiederum der Implementierung insgesamt schaden würde. Die Schwelle dafür, Vorschläge einzubringen, sollte sich so niedrig wie möglich anfühlen.
Es ist daher besser, einen Vorschlag lieber diskret und implizit auf diese Kriterien abzuklopfen, indem man als Facilitator den Vorschlag vorstellen Schritt geschickt einleitet. Das Framing ist hierbei entscheidend. Wir schlagen die folgende Formulierung vor: „Wer hat diesen Agendapunkt eingebracht und aus welcher Rolle (a)? Erzähl uns was die Spannung (b) ist, die du prozessieren willst und wie sie sich für dich gezeigt hat. Beende den Satz ‚Ich schlage vor, dass…‘“ Indem du bei ihrer Antwort genau hinhörst, wirst du wissen, ob es das Kriterium a) und b) befriedigt ist. Was Kriterium c) betrifft – es ist normalerweise offensichtlich, wenn das nicht befriedigt wird, denn dann fühlt sich der Vorschlag unsinnig oder unverbunden an.
Wenn du nicht sicher bist, ob du jeden Aspekt richtig herausgehört hast oder falls der Vorschlag sich insgesamt etwas schräg anhört, kannst du den nächsten Prozessschritt, Verständnisfragen, dafür nutzen, um etwas tiefer nachzubohren. Falls an dieser Stelle deutlich werden sollte, dass der Vorschlag wahrscheinlich eher unzulässiger Natur ist, dann kannst du den Prozess unterbrechen und ihn „offiziell“ testen und die drei Kriterien direkt abfragen. Wenn er eine der drei Kriterien nicht erfüllt, dann will der Prozess von dir, dass du den Vorschlag verwirfst. Das kannst du dem Vorschlagenden auch genau so sagen (und dich damit als Person als Buhmann aus der Schusslinie nehmen), doch bitte verwerfe den Vorschlag nicht ohne zu erklären, warum das gerade geschieht (du kannst die Immunsystem Metapher verwenden). Andernfalls ist es einfach nur frustrierend für alle Beteiligten und niemand lernt irgendetwas über den Prozess. Die Menschen wollen ja in der Regel besser werden in ihrem Verständnis der Holakratie, also hilf ihnen dabei so gut du kannst.
Eine weitere Situation, in der diese Regel nützlich sein kann, ist während einer schwierigen Integration. Falls die Integration besonders schwierig erscheint, kannst du als Facilitator ja bekanntermaßen alle Sicherheitsbedenken (Einwände) noch mal nachtesten, um sicherzustellen, dass du nichts übersehen hast. Doch du kannst auch den Vorschlag selbst noch einmal testen, entweder auf Anfrage der Kreismitglieder (Anfänger wissen normalerweise nicht, dass sie den Facilitator jederzeit darum bitten können, das zu tun), oder indem du es von dir selbst „anfragst“. So kannst du es nachträglich korrigieren, falls du mal bei Vorschlag vorstellen und Verständnisfragen nicht so genau zugehört haben solltest.
Tipp: Werde neugierig bei Domänen
Als Facilitator solltest du insbesondere immer dann neugierig werden, wenn Domänen vorgeschlagen werden, da diese häufig missverstanden und daher oftmals komplett anlasslos geschaffen werden. Frage nach der ursprünglichen Spannung und lass dir vom Vorschlagenden ein Beispiel schildern, wie die vorgeschlagene Domäne in der Vergangenheit Schaden abgewendet hätte, bzw. welche Schäden befürchtet werden, falls sie nicht geschaffen wird. Domänen wirken wie Schutzzäune. Versuche zu verstehen, was hier jeweils wovor beschützt werden soll. Falls der Vorschlagende hier keine Argumentation liefern kann, verwerfe den Vorschlag als unzulässig.
Achtung, Ausnahmen:
Abschnitt 3.2.2 der Verfassung definiert Ausnahmen, für die die Testung des Vorschlags nicht in Frage kommt: „Ein Vorschlag ist immer gültig, unabhängig von den vorgenannten Kriterien, wenn er nur eingebracht wird, um die Governance des Kreises weiterzuentwickeln, um eine Aktivität zu reflektieren, die bereits geschieht, oder um eine Neuwahl einer gewählten Rolle anzustoßen“. Mit anderen Worten: Vorschläge, die nur den aktuellen Status Quo der wiederkehrenden Arbeit im Kreis erfassen und dokumentieren, sind immer zulässig, egal von welcher Rolle sie eingebracht werden. Auch Vorschläge für Neuwahlen sind jederzeit zulässig.
Parallelen zur Testung von Sicherheitsbedenken
Alle Kriterien zur Testung von Vorschlägen haben übrigens eine Parallele in den Kriterien zur Testung von Sicherheitsbedenken. Kriterium a) deckt sich mit der zweiten Testfrage (welche Rolle?), Kriterium b) mit der ersten Frage nach dem konkreten Schaden (Beispiel geben) und Kriterium c) mit der Testfrage, ob der Schaden durch den Vorschlag verursacht wird, oder unabhängig davon besteht (Verbindung zwischen Spannung und Vorschlag). Der Grund dafür ist, dass sowohl Vorschläge als auch Sicherheitsbedenken aus Sicht der Verfassung gleichermaßen Spannungen darstellen, die erst den Anforderungen des Prozesses genügen müssen, bevor sie als Spannungen der Organisation prozessiert werden dürfen.
Zusammenfassung
Es ist wichtig zu wissen, dass die Regel der Vorschlagstestung existiert. In der Praxis kann man ihre Anwendung nur selten beobachten, doch wenn sie mal angewendet wird, dann kann sie einen großen Unterschied machen. Sie ist das Immunsystem der Organisation, das Fremdkörper ausscheidet, die nicht zu ihrem Purpose passen. Doch verunsichere Anfänger nicht durch „allergisches“, da anlassloses Testen ihrer Vorschläge. Lasse sie erst mal ein paar Vorschläge einbringen und sich an den Prozess gewöhnen. Schreite nur dann ein, wenn du das Gefühl hast, dass sie Dinge vorschlagen, die gefährlich werden könnten, bzw. die Holakratie-Praxis behindern. Teste den Vorschlag immer erst implizit, um ein klareres Verständnis der Situation zu bekommen. Denke an die Ausnahme, dass ein Vorschlag immer zulässig ist, wenn er lediglich bereits existierende, wiederkehrende Tätigkeiten in der Governance dokumentiert. Sobald eine Gruppe erfahrener ist und sich mit Governance wohl fühlt, kannst du die Testung des Vorschlags offen bei Bedarf oder auf Anfrage einsetzen. Viel Erfolg!