Ressourcenbasierte Bedenken in Governance Meetings

 

Es herrscht eine Menge Verwirrung darüber, wie man in Governance Meetings mit Bedenken umgehen sollte, die sich auf knappe Ressourcen, wie Zeit, Geld, oder Personal beziehen. Ist Governance wirklich ein komplett „ressourcenfreier Raum“, oder gibt es Fälle, in denen man ressourcenbasierte Bedenken nicht einfach unbedarft vom Tisch wischen sollte? Dieser Artikel versucht ein differenzierteres Verständnis zu schaffen, das in der konkreten Praxis helfen soll, angemessen auf solche Bedenken zu reagieren.


In Governance Meetings geschieht es immer wieder, dass während der Sicherheitsprüfung der Vorschläge („Einwandsrunde“) Bedenken laut werden, dass ein Vorschlag kostbare Ressourcen bindet, die der Organisation gerade nicht zur Verfügung stehen: „Dafür haben wir keine Zeit.“ „Das ist zu viel.“ „Ich habe nicht genug Leute dafür“. Verständlicherweise regen sich dann Bedenken etwa gegen die Schaffung neuer Rollen und das Hinzufügen zusätzlicher Accountabilities.

Das Ressourcen-Missverständnis

Die genannten Bedenken sind zumeist gegenstandslos, weil sie auf der irrigen Annahme beruhen, dass mehr Rollen und mehr Accountabilities automatisch gleichzusetzen sind mit mehr Arbeit und mehr Aufwendung von Ressourcen.

Abb: Das Ressourcen-Missverständnis

Doch in Governance Meetings werden ja gerade keine operativen Entscheidungen getroffen, wie es die Verteilung von Ressourcen eine ist. Hier werden nur die Erwartungen und Autoritäten über die Struktur der Arbeit der Organisation und die jeweiligen Zuständigkeiten definiert. Eine häufig verwendetet Metapher ist, dass die Governance einer Organisation lediglich „die Landkarte“ ist, dass diese jedoch nicht festschreibt, wie man sich im konkreten Terrain (operatives Geschäft) letztendlich bewegt, um sein Ziel zu erreichen. Das Neu-Zeichnen der Landkarte verursacht nicht automatisch Kosten.

Denn selbst wenn eine neue Rolle oder eine neue Zuständigkeit geschaffen wird, darf diese Governance-Entscheidung nicht festlegen, wie viele Ressourcen auf diese Rolle oder diese Zuständigkeit in der Praxis aufgewendet wird. Das liegt gemäß Verfassung immer im Ermessen des Rollenfüllers und ist nie durch die jeweilige Governance Entscheidung selber spezifiziert (das wäre unzulässig, da dies eine spezifische operative Entscheidung darstellen würde).

Die operativen Regeln von Holakratie in der Verfassung erfordern, dass jeder Rollenfüller seine Zeit, Aufmerksamkeit und Energie jeden Tag neu bewusst priorisiert und stets an demjenigen arbeitet, von dem er denkt, dass es aktuell am Wichtigsten ist. Also selbst wenn er es wollte, dürfte er seine Zeit nicht auf „unnötige“ Rollen oder Accountabilities „verschwenden“. Das bedeutet konkret, dass bewusstes Nicht-Tun und bewusstes Nicht-Ausüben von Rollen 100% legitimes „Accounting“ im Sinne von „Rechenschaftspflicht“ (eine der Bedeutungen des englischen Wortes „Accountability“) ist. Indem man sagt, „kein Update“, „diese Rolle ist gerade relativ unwichtig“, hat man seine Rechenschaftspflicht voll erfüllt. Mehr noch: Es ist sogar die Pflicht eines Rollenfüllers, Unwichtiges links liegen zu lassen und bewusst zu de-priorisieren.

Die Angst, dass die Schaffung einer neuen Rolle oder einer neuen Accountability dazu führt, dass wichtigere Dinge liegen bleiben, oder dadurch zwangsläufig wertvolle Ressourcen gebunden werden, ist also eigentlich unbegründet. Sie wurzelt in einem Missverständnis darüber, was solche Governance-Konstrukte in Wirklichkeit in der operativen Praxis bedeuten.

Governance – die unendliche Suche nach der erforderlichen Struktur

Der Governance-Prozess versucht kontinuierlich, die derzeit erforderliche Struktur freizulegen, die nötig ist, um die Arbeit in Bezug auf die Erfüllung des Purpose der Organisation möglichst effektiv und effizient zu erledigen. Das ist eine niemals endende Suche, ein fortlaufender evolutionärer Prozess, der nie wirklich komplett oder abgeschlossen ist. Die „perfekte Governance“ ist daher ein bewegliches Zielbild, eine flüchtige Vision, der man sich zwar unendlich annähern, aber die man niemals wirklich erreichen kann.

Damit wir uns auf dieser Suche keine unnötigen Scheuklappen anlegen, fragen wir im Prinzip: „Mal angenommen wir hätten unendlich viel Zeit und Geld – was wäre dann die aktuell erforderliche Struktur, um den Purpose der Organisation auszudrücken?“

Governance als „ressourcenfreier Raum“

Aus diesem Grund hört man in Meetings oft den griffigen Slogan „Governance ist ein ressourcenfreier Raum“. Das bleibt leicht im Gedächtnis kleben und ist eine taugliche Generalisierung. Verallgemeinerungen können nützlich sein, um Komplexität zu reduzieren und sich schnell zu orientieren. Doch leider schießen sie manchmal über ihr Ziel hinaus.

„Governance ist ein ressourcenfreier Raum“ führt leider allzu schnell zu dem Kurzschluss „Governance hat nix mit Ressourcen zu tun“. Dieser wiederum verleitet zu der Annahme, dass jegliche Bedenken („Einwände“), die sich irgendwie auf Ressourcen beziehen oder damit zu tun haben, per se nicht für die Integration beachtet werden müssen, und unmittelbar verworfen werden können.

Doch wenn dem tatsächlich so wäre, dann wäre es einfach eine weitere Test-Frage geworden: „Hat dein Bedenken irgendwie mit Ressourcen zu tun?“ – „Ja? Dann ist es nicht integrationspflichtig!“ Das wäre ein Leichtes gewesen. Dies ist aber offensichtlich keines der vier Testkriterien für Einwände aus der Verfassung geworden. Die Sachlage ist leider etwas komplizierter. Es gibt nämlich auch ressourcenbasierte Bedenken, die integrationspflichtig sind.

Umgang mit ressourcenbasierten Bedenken

Wenn ein Bedenkenträger ressourcenbasierte Bedenken geltend macht, sollte man wie folgt vorgehen:

Als erstes sollte man versuchen auszuschließen, dass das Bedenken bloß auf dem zuvor geschilderten Missverständnis basiert, dass eine neue Rolle hinzuzufügen automatisch bedeute, dass mehr Zeit aufgewendet würde. Dem ist nicht so. Eine Veränderung auf unserer Landkarte der Autorität hat keine automatische Auswirkung auf das Terrain.

Man schließt es aus, in dem man ein kurzes Time-Out nimmt und dem Bedenkenträger eine Erläuterung anbietet. Das Folgende hat sich in der Praxis bewährt:

„Wenn wir durch Governance Rollen oder Accountabilities hinzufügen, dann bedeutet das nicht automatisch mehr Arbeit. Der Rollenfüller kann selber priorisieren, wie viele Ressourcen er auf eine Accountability verwendet und wann er sie erledigt. Wenn du das verstehst, besteht dein Bedenken noch fort?“

Die Frage am Ende muss ernstgemeint und ergebnisoffen sein. In 95% der Fälle lautet die Antwort „nein“ und das Bedenken wird fallengelassen. Das Bedenken hat sich in Wohlgefallen aufgelöst, weil es auf falschen Annahmen basierte und als gegenstandslos erkannt wurde.

Falls der Gefragte mit „ja“ antwortet, dann kann das zwei Ursachen haben:

  1. Der Bedenkenträger hat die Erklärung im Time-Out nicht verstanden und sein Missverständnis besteht weiter fort. In diesem Fall kämpfe dich nicht ab, sondern folge lieber der „goldenen Regel der Testung von Sicherheitsbedenken“. Diese besagt, dass es besser ist, ein nicht integrationspflichtiges Bedenken einfach mit zu integrieren, als ein begründetes Bedenken („Einwand“) rauszuwerfen. (Dauert vielleicht etwas länger, doch die ursprüngliche Spannung des Vorschlagenden wird immer noch gelöst.)
  2. Die Erklärung wurde zwar verstanden und der Bedenkenträger weiß bereits, dass Governance nicht automatisch Ressourcen bindet, aber sein Bedenken gehört leider zufällig zu den geschätzten 5% der Fälle, in denen das tatsächlich legitimerweise der Fall ist.

Weil es diese seltenen Sonderfälle gibt, ist der Kurzschluss „ressourcenbasiertes Bedenken = verwerfen“ leider gefährlich und kann dazu führen, dass durch Ignorieren eines legitimen Bedenkens Schaden in die Organisation eingeführt wird. Diese Schäden, selbst wenn sie gering sind, können sich zu erheblichen Effizienzverlusten aufaddieren. Wir müssen also immer ein Time-Out anbieten und schauen, ob das Bedenken weiterhin fortbesteht – auch wenn dieses Vorgehen umständlich erscheint.

Ressourcenbasierte Bedenken, die tatsächlich Ressourcen binden

Was sind nun konkrete Beispiele dieser Sonderfälle?

Beispiel a) ­– die umständlich formulierte Richtlinie:

„Jede Datei muss zur Sicherheit an drei verschiedenen Orten gespeichert werden.“

Diese Richtlinie ist so formuliert, dass sie zwangsläufig Ressourcen bindet, indem sie erheblichen Mehraufwand erzeugt. Immer wenn ich mit Dateien arbeiten will, muss ich zwei weitere Kopien an anderen Orten erzeugen. Da habe ich als Rollenfüller keinen Interpretationsspielraum. Das macht Arbeit. Das ressourcenbasierte Bedenken wird in diesem Fall nicht aufgrund eines Missverständnisses erhoben, sondern ist in der Natur des Vorschlags begründet.

Beispiel b), die „eierlegende Wollmilchsau“-Rolle:

In diesem Beispiel werden nach und nach immer mehr Accountabilities an eine Rolle gehängt, die so speziell und divers sind, dass es für den Lead Link praktisch unmöglich wird, einen geeigneten Rollenfüller zu finden, der all diese für die Rolle erforderlichen Fähigkeiten besitzt. Die „knappe Ressource“ ist in diesem Fall der Skill der verfügbaren Rollenfüller. Der Lead Link würde erfahrungsgemäß niemanden finden, der für die Rolle in Frage kommt. Das würde den Lead Link und den Kreis in seiner Arbeit behindern. Wieder ist nicht das Problem, dass der Einwendende Governance missversteht. Der Vorschlag erzeugt ein Problem, das zwar mit Ressourcen zu tun hat, aber nicht auf falschen Annahmen über die Natur von Governance basiert.

Hinweis: Diese Beispiele sind nicht erschöpfend. Es gibt noch viele andere Fälle legitimer ressourcenbedingter Bedenken.

Fazit

Leider ist die Realität vielschichtiger als wir uns das manchmal wünschen. Voreilige Verallgemeinerungen – so hilfreich sie auch zur Orientierung sein mögen – bergen die Gefahr, dass man manchmal wichtige Aspekte übersieht. Das Hinzufügen von Rollen oder Accountabilities bindet nicht zwangsläufig Ressourcen (wie Zeit oder Geld). Dass ein Bedenken mit Ressourcen zu tun hat, heißt nicht zwangsläufig, dass wir es kurzerhand verwerfen können.

Ein Facilitator muss eine forschende Haltung an den Tag legen und die Bedenken ergebnisoffen und wohlwollend prüfen. Durch das Anbieten eines Time-Outs mit Erklärung können wir herausfinden, ob der Bedenkenträger nur einem Missverständnis über die Natur von Governance-Entscheidungen aufsitzt, oder ob sein Bedenken trotz seines korrekten Verständnisses fortbesteht. In diesem Fall sind wir auf einen seltenen Sonderfall gestoßen und können sicherstellen, dass dieses legitime Bedenken in den Vorschlag integriert wird. So kann Schaden für die Organisation verhindert werden.

Doch selbst mit der besten Intention werden wir Fehler machen. Davon wird die Welt nicht untergehen. Unsere Governance wird immer lückenhaft und imperfekt sein. Doch das ist in den allermeisten Fällen immer noch um Lichtjahre besser als der Grad der Entscheidungsklarheit, der in den meisten Organisationen herrscht. Mut zur Lücke. Jede Lücke ist eine Spannung, aus der wir lernen können.


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